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Portrait: Moritz Schularick – Auf Crash-Suche im Stadtarchiv

Süddeutsche Zeitung, October 6, 2015

by Thomas Fricke

Börsenkurse, Unternehmensgewinne, Ankündigung von Notenbankern – nix da: Der Wirtschaftshistoriker Moritz Schularick sucht in alten Dokumenten nach einem Frühwarnsystem für die nächste große Bankenkrise

Berlin – Es gibt viele Menschen, die gern wissen würden, wann der nächste Finanzcrash kommt. So auch Moritz Schularick. Nur sucht der Bonner Wirtschaftsprofessor nach den Warnsignalen nicht im Börsenticker, so wie es manche Analysten, Hobbyaktionäre und andere Ökonomen tun. Er versucht nicht zu deuten, was die neuesten Verlustwarnungen von Konzernen bedeuten oder die verschwurbelten Zaubersätze von Notenbankern. Stattdessen geht Schularick ins Stadtarchiv. Lässt sich alte Wälzer bringen und studiert lange Zahlenkolonnen in statistischen Jahrbüchern von anno dazumal.

Das alles klingt ein bisschen verschroben. Was täuscht. Der 40-Jährige gehört zu jener wiedererweckten Spezies von Ökonomen, die in die Geschichte eintauchen, historische Parallelen analysieren und lange Trends erkennen wollen – um daraus jene Schlüsse für die heutige Welt zu ziehen, die sich aus den etablierten Modellen nicht ziehen lassen. Und so vielleicht einmal den nächsten Crash als erste kommen sehen.

Lange galten Wirtschaftshistoriker als Exoten, die Geschichte zur Dokumentation betreiben. Das hat sich mit der großen Finanzkrise 2008 geändert. Seitdem gibt es Dutzende Forscher, die zu verstehen versuchen, wie es zu dieser neuen Jahrhundertkrise kommen konnte – und was man aus ähnlichen Desastern von früher lernen kann. Eine Krise, die nach gängiger Lehre gar nicht hätte passieren dürfen.

Wo anders als in Schularicks Heimatstadt Berlin lassen sich Orte finden, an denen frühere Finanzkrisen passiert sind. Treffpunkt Hotel de Rome, dem ehrwürdigen Bau in Mitte, wo 1931 die Dresdner Bank ihren Sitz hatte, die damals im Sog des Crashs kollabierte. Jene Bank, die, mittlerweile in Frankfurt, den neuen Crash 2008 nicht überlebt hat und in der Commerzbank aufgegangen ist. Nicht unbedingt ein Beleg, aus der Geschichte gelernt zu haben.

Dass es überhaupt noch mal zu einem derartigen Ereignis kommen würde, galt auch für die meisten Ökonomen als ziemlich unmöglich, sagt Schularick. Hier sehen Geschichtsfans wie er das Grundproblem. Lange Zeit sei Ökonomie als etwas verstanden worden, dessen Gesetze zeitlos und universal gelten – „ob in Burkina Faso oder den USA“. Und die sich daher aus der laufenden Beobachtung üblicher Zusammenhänge erklären lässt. Wie reagieren Investoren, wenn der Zins steigt oder fällt? Wie stark muss man abwerten, um mehr zu exportieren?

Das Problem, so Schularick: Große Krisen bauen sich oft über viel längere Zeit auf. Und sie kommen nicht so oft vor, dass sie in den üblichen Modellen und statistischen Regelmäßigkeiten erkennbar werden. US-Ökonom Robert Lucas habe ein paar Jahre vor der Krise die vorangegangenen 30 Jahre analysiert – und daraus abgeleitet, dass es keine große Depression mehr geben würde. Klar, weil es in den drei Jahrzehnten auch keine gab. Der Crash folgte erst kurz darauf.

Als die Krise im Jahr 2008 ihren Lauf voll entfaltete, begann Schularick, damals Dozent an der Freien Universität Berlin, Daten zu sammeln, Jahrbücher und alte Bankbilanzen auszuwerten. Zusammen mit seinem US-Kollegen Alan Taylor stellte er für 15 Länder zusammen, wie sich Bankkredite, Aktien und anderen Finanzdaten seit etwa 1880 entwickelt hatten – so gut wie alles, was an solchen Daten weltweit zu finden war. Fleißarbeit. Und plötzlich schien klar, was manche bis dato nur ahnten: Dass den großen Crashs fast immer ein atemberaubender Anstieg der Kredite von Banken vorausgeht – nicht höhere Staatsschulden, wie es oft vermutet wird. Und dass das Problem im System steckt. Nach klassischer Lehre hätten die Banken bei zunehmender Expansion vorsichtiger werden müssen. Das Gegenteil passierte: Je mehr die Kredite boomten, desto sorgloser wurden die Banker. Bis dieBlase platzte.

Mit der mittlerweile preisgekrönten Studie („Credit Booms Gone Bust“) sorgten Schularick und Taylor für Wirbel in der Zunft. Die Diagnose, wonach die Banken selbst das Kreditproblem schaffen, passte nicht in die gängigen Glaubenssätze, wonach der Markt es in solchen Fällen schon richtet. Auf internationalen Konferenzen kommt es seitdem vor, dass Nobelpreisträger wie Joseph Stiglitz nach Schularick fragen, wenn der junge deutsche Professor, mittlerweile mit Lehrstuhl an der Uni Bonn, ein neues Paper veröffentlicht hat.

In Deutschland werde oft noch zu dogmatisch diskutiert, so Schularick. In den USA ist er als Datenpragmatiker mit historischem Blick mittlerweile in prominenter Gesellschaft. Historiker wie Barry Eichengreen sind gefragt. Die US-Notenbank wurde in den Krisenjahren vom Wirtschaftshistoriker Ben Bernanke geführt, der über die Krise der 30er-Jahre geforscht hat. Für Aufmerksamkeit sorgte auch Ken Rogoff, vormals Chefökonom des Internationalen Währungsfonds: mit seiner Auswertung von Staatsschulden über 150 Jahre. Oder der französische Starökonom Thomas Piketty, der akribisch die Entwicklung der Ungleichheit seit dem 19. Jahrhundert sezierte.

Bleibt die Frage, was sich aus alledem für die Praxis ableiten lässt. Zu den Erkenntnissen zähle, so Schularick, dass Notenbanken nach dem Platzen einer Finanzblase viel Geld zur Verfügung stellen müssten, um eine Depression zu verhindern. Die Auswertung von Nachkrisenzeiten habe gezeigt, wie lange ein Crash nachwirkt, wenn alle Schuldner plötzlich zugleich versuchen, ihre Schulden abzubauen, statt Geld auszugeben. Schularicks Devise: Historische Ausnahmesituationen erfordern Ausnahmemaßnahmen, die nicht im gängigen Lehrbuch stehen. Zu den Einsichten aus der Vergangenheit zählt auch, dass es fatal sei, in so einer Krise Ursachen (Kreditboom) und Symptom (anschließende Staatsschulden) zu verwechseln. Wer nur den Staatshaushalt zu sanieren versucht, geht nicht an die Ursache.

Im vergangenen Jahr hat der junge Forscher viel Zeit damit verbracht, die Immobilienpreise seit Ende des 19. Jahrhunderts auszuwerten. Auch das hatte bis dahin niemand so gemacht. Quintessenz: Dr rasante Anstieg der vergangenen Jahrzehnte kommt vor allem daher, dass der Boden zum Bauen immer knapper wird. Wenn das stimmt, helfen womöglich nur noch höhere Steuern auf (größeres) Eigentum, so Schularick. Nicht populär, aber ökonomisch fast zwingend.

Und wann kommt nun der nächste Crash? Auf die womöglich wichtigste Frage hat auch Schularick noch keine fertige Antwort. Noch nicht. Bisher sei es darum gegangen, Daten zu sammeln und vergangene Krisen zu verstehen. Die Lehre soweit: Es kommt nicht so sehr darauf an, ob es hier und da eine Blase etwa am Aktienmarkt gibt. Entscheidend ist, ob dahinter Kreditexzesse stecken. Dann wird es kritisch. Dann sollten Frühwarnsysteme Alarm geben.

Wenn Schularick mit Notenbankern spricht, wollen die es natürlich genauer wissen. Der Wunsch ist, aus der historischen Erfahrung ein Frühwarnsystem abzuleiten, das anzeigt, bei wie viel Prozent Kreditwachstum ein Stadium erreicht ist, bei dem die Alarmglocken der Aufseher läuten sollten. Das genau zu definieren, daran werde noch geforscht, räumt Schularick ein. Und das lohnt allemal. Immerhin gibt es schon jetzt internationale Regularien (unter dem Namen Basel III), die vorsehen, dass Banken in ihrer Kreditvergabe bei zunehmender Euphorie automatisch gebremst werden sollten.

Wer weiß, vielleicht lässt sich das eines Tages aus den ewig langen Zeitreihen ableiten, die Moritz Schularick aus alten Zeiten gesammelt hat. Der Traum vom Stadtarchiv, das helfen kann, den ganz großen Finanzcrash zu verhindern.