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„Eine gute Krise sollte man nie nutzlos verstreichen lassen“ Der Bonner Ökonom Moritz Schularick setzt darauf, dass die EU-Mitgliedstaaten mehr fiskalische Kompetenzen abgeben. Nur so könne Europa endlich seine geopolitische Rolle ausspielen – und nur dadurch werde der Euro zur echten Weltreservewährung.

WirtschaftsWoche, (27.05.2020), Interview von Sven Böll

Moritz Schularick ist einer der international bekanntesten deutschen Nachwuchsökonomen. Der 44-jährige Wirtschaftshistoriker leitet das Macrofinance Lab der Universität Bonn. Derzeit verbringt er ein Forschungsjahr an der New York University.

 

WirtschaftsWoche: Herr Schularick, kann sich Deutschland all die Rettungspakete zur Linderung der Folgen der Coronapandemie überhaupt leisten?
Moritz Schularick: Ja.

So kurze Antworten bin ich gar nicht gewohnt.
Ich kann gern ausführlicher antworten: Natürlich wird die Staatsverschuldung in Deutschland stark steigen, wahrscheinlich von derzeit deutlich unter 60 Prozent des Bruttoinlandsproduktes auf rund 80 Prozent. Vielleicht auch auf mehr. Aber das ist angesichts des extrem niedrigen Zinsniveaus verkraftbar – und auch im historischen Vergleich noch immer ein absolut tragfähiges Niveau.

An welche Beispiele in der Geschichte denken Sie?
Großbritannien hatte nach den napoleonischen Kriegen Schulden in Höhe von rund 200 Prozent seiner Wirtschaftsleistung. Damals existierte noch der Goldstandard, es gab positive Realzinsen – und trotzdem haben all diese Umstände nicht verhindert, dass das 19. Jahrhundert zu einem britischen Jahrhundert wurde, in dem das Land den Takt der Industrialisierung vorgab und schließlich über ein Weltreich herrschte, in dem die Sonne niemals unterging.

Das klingt allerdings eher nach der Ausnahme als der Regel.
Es ist aber weniger eine Ausnahme, als die meisten denken. Nach dem Zweiten Weltkrieg hatten viele Industrieländer 120 bis 140 Prozent Staatsverschuldung – und die meisten haben sie innerhalb von 20 bis 30 Jahren deutlich reduziert – natürlich nicht in absoluten Zahlen, sondern relativ zur Wirtschaftsleistung.

Aber ab wann wird Staatsverschuldung gefährlich?
Da kann ich leider nur antworten: Kommt drauf an. Es gibt drei Dinge, die ineinandergreifen. Die Höhe der Schulden, die Wirtschaftsleistung und der Preis der Schulden, also die Zinsen. Das lässt sich nicht voneinander getrennt betrachten. Bei negativen Zinsen, wie es sie für Bundesanleihen bereits gibt, wäre natürlich auch eine extrem hohe Verschuldung tragbar. Aber Zinsen können sich natürlich ändern. Wenn man nachts im dunklen Wald steht, fängt man ja auch nicht an zu rennen, weil man dann in den nächsten Baum rast, sondern tastet sich vor.

Wie sieht das Vortasten in der aktuellen Situation aus?
Wir können die finanziellen Spielräume, die wir haben, problemlos nutzen. Wir sollten dabei immer im Hinterkopf behalten, was uns die Verschuldung kostet, wenn sich das Zinsniveau normalisiert. Und wir sollten die aufgenommenen Mittel sinnvoll investieren, also in Infrastruktur und Bildung. Dann ist sogar denkbar, dass die Schuldenquote kaum steigt, weil die Wachstumseffekte groß sind.

Viele wissen wahrscheinlich gar nicht mehr, was ein „normales Zinsniveau“ ist.
Nehmen wir an, unsere Wirtschaft wächst real mit anderthalb bis zwei Prozent, und die Inflation läge tatsächlich bei jenen zwei Prozent, die von der Europäischen Zentralbank eigentlich angestrebt werden sollten, dann hätten wir Zinsen zwischen drei und vier Prozent. Das ist normal – oder besser gesagt: Das wäre normal.

Was ist mit Ländern wie Italien, die bereits vor der Coronapandemie unter hohen Krediten litten und deren Verschuldung nun auf 160 oder sogar noch mehr Prozent steigen könnte?
Zum gegenwärtigen Zinsniveau kann auch Italien die Last tragen. Aber das Beispiel zeigt, dass es wichtig und sinnvoll ist, die Kosten der Coronakrise und den Wiederaufbau der Wirtschaft auch über gemeinsame europäische Mittel zu finanzieren, wie es Kanzlerin Angela Merkel und Präsident Emmanuel Macron vorgeschlagen haben. Wenn sich die europäische Wirtschaft schnell erholt, profitiert davon auch die deutsche Wirtschaft. Das war auch die Logik des Marshall-Plans.

Viele in Deutschland fürchten angesichts eines EU-Rettungsfonds in Höhe von 500 Milliarden Euro allerdings den Einstieg in eine Schuldenunion.
Ich halte das für einen Kampfbegriff. Aber in der Tat ist das Spannende an dem von Merkel und Macron losgetretenen Prozess, dass in ihm eine ungeheure Dynamik angelegt ist.

Inwiefern?
Wenn die EU künftig tatsächlich selbst Schulden aufnimmt, müssen wir die irgendwann auch bedienen. Dafür gibt es zwei Möglichkeiten: Entweder die Mitgliedstaaten überweisen mehr nach Brüssel, was in der Regel zu Hause nicht wirklich gut ankommt. Oder es werden eben zusätzliche fiskalische Kapazitäten auf die EU-Ebene verlagert.

Für die Kompetenzverlagerung wird es in den Mitgliedstaaten aber auch nicht überall Begeisterung geben.
Das stimmt, aber die Integrationsbefürworter haben ein gutes Argument auf ihrer Seite: Die EU könnte nun endlich die globalen Instrumente, die sie qua ökonomischer Bedeutung eigentlich hat, auch tatsächlich nutzen. Und das sollte sie auch tun, weil man eine gute Krise nie nutzlos verstreichen lassen sollte. Und schon gar nicht zweimal. Die erste Krise haben wir klar verloren.

Sie meinen die Finanzkrise vor gut zehn Jahren?
Genau, aus der sind die USA und China gestärkt hervorgegangen – und Europa geschwächt.

Und warum sollte das nun anders sein?
In der Coronapandemie hat sich gezeigt, dass Europa mit seinem politischen Modell vergleichsweise gut damit zurechtgekommen ist. Da wäre es doch bitter, wenn wir nun wieder Zeit verlören und den anderen beiden großen Blöcken geopolitisch weiter hinterherliefen. Zumal die Dysfunktionalitäten sowohl des amerikanischen als auch des chinesischen Systems derzeit deutlich werden.

Da sind Sie aber sehr optimistisch. In Europa gab es zu Beginn der Pandemie ebenfalls starke nationale Reflexe. Die EU spielte keine Rolle.
Es gab Startschwierigkeiten, keine Frage. Doch das hat sich dank Merkel und Macron nun dramatisch geändert. Die Botschaft der beiden lautet doch: Zusammen haben wir die Chance, stark zu sein. Vereinzelt werden wir auf jeden Fall schwach sein.

Worin sehen Sie denn jetzt konkret eine Chance für Europa?
Es gab bislang keine Strategie, den Euro als echte Weltreservewährung zu etablieren. Die Folgen sind fatal: Unsere Banken verschulden sich in Dollar, aber in einer Finanzkrise haben wir die Dollar nicht, um ihnen zu helfen – und müssen die USA um Dollar bitten. Wäre der Euro allerdings so wichtig wie der Dollar, hieße das: Auch wir drucken buntes Papier, und alle anderen müssen uns echte Sachen geben, damit sie unser buntes Papier besitzen dürfen. Wir hätten dann wahrscheinlich langfristig auch niedrigere Zinsen in Europa.

Dafür bräuchte es aber eben viel mehr Kompetenzen auf EU-Ebene. Glauben Sie wirklich, dass es zu einer solchen Verlagerung kommt?
Viel mehr als eine bessere fiskalische Absicherung der EU braucht es doch gar nicht. Derzeit ist der Euro eine Währung ohne Staat. Das würde sich schon dann ändern, wenn es etwa auf europäischer Ebene eigene Steuerkompetenzen gäbe, die EU also zum Beispiel die Einnahmen aus dem Emissionshandel erhielte. Dann könnte sie sich auch verschulden.

Genau das ist aber für viele ein Schreckensszenario.
Mag sein, aber was in der deutschen Debatte in der Regel zu kurz kommt: Schulden spielen eine wichtige Rolle fürs Sparen. Denn die Schulden des einen sind die Ersparnisse des anderen.

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